Geschichte der Schneiderei in Deutschland
Stoff für Geschichte
Die Herrenschneider
Der „echte“ Maßanzug steht auch heute noch in seinem ästhetischen und kulturellen Wert exemplarisch für die Arbeit des Herrenschneiderhandwerks. Dabei garantiert ein Anzug vom Herrenschneider immer auch ein nachhaltiges und hochwertiges Produkt, das aus natürlichen Bestandteilen wie Wolle, Rosshaar und Steifleinen besteht.
Zu den besonderen handwerklichen Fertigkeiten der Herrenschneider gehören das Maßnehmen, die Erstellung eines individuellen Schnittmusters, der Zuschnitt per Hand, die Verbindung von Unterbau und Oberstoff durch Nadel, Faden und Hand, die Dressur (In-Form-Bügeln) des Stoffes, die Korrektur des Kleidungsstücks bei den Anproben und natürlich auch die sachgerechte Pflege und Reparatur der fertigen Bekleidung.
Der Maßanzug als kulturelles Symbol
Klasse statt Prunk
Bereits im Hochmittelalter entwickelten sich die Unterschiede der körpernahen Damen- und Herrengarderobe in zwei verschiedene Richtungen. Daraus wuchsen die Anforderungen für die Näher, und so entwickelte sich eine Schneiderzunft, die sich in Deutschland (Hamburg-Harburg) schon im Jahr 1152 organisierte. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts arbeiteten die Herrenschneider das „klassische“ Anzugmodell heraus, das sich von den prunkvollen Gewändern des Adels absetzte. Der Maßanzug dominiert auch in der Neuzeit weltweit die maskuline Ästhetik im öffentlichen Raum: Er ist nicht nur ein Kleidungsstück, sondern ein kulturelles Symbol. Seine kulturelle Relevanz ist das Ergebnis seiner langen Geschichte: Denn diese Kleidungsform ist untrennbar mit dem Aufstieg des Bürgertums verbunden und nahm seitdem in seiner vertrauensgewinnenden Konformität auch eine wirtschaftliche Funktion unter Kaufleuten ein. Der neue Stand, der seine Privilegien nicht mehr aus Geburtsrechten ableitete, sondern aus einer Leistungsethik, erhielt durch ihn eine Ästhetik, die sich von der des Adels unterschied.
Um dieses Erscheinungsbild machte sich besonders George „Beau“ Brummel (1778–1840) verdient: Sein oberstes Gebot lautete, der Anzug des Bürgers müsse so unauffällig sein, dass ihn niemand bemerkt. Entsprechend orientierten sich die Schneider an der natürlichen Körperform des Mannes und versuchten mit ihrer Arbeit körperliche Unregelmäßigkeiten zu korrigieren. Zum Umfang der heutigen Verarbeitungstechnik entwickelte sich das Schneiderhandwerk mit dem Ende des Rokokos. Die neue Klasse des Bürgertums manifestierte im öffentlichen Leben zunächst die praktische Kombination aus Hose, Weste und Frack aus festem Wolltuch und ab dem frühen 20. Jahrhundert den einfarbigen Anzug, der auch vom Adel übernommen wurde. Diese Orientierung trug wesentlich dazu bei, dass der Anzug bis heute – trotz unterschiedlicher Geschmäcker – nie zu einem reinen Modestück geworden ist, sondern zum festen Bestandteil einer Reihe zeitloser ästhetischer Symbole wurde.
Derzeit nur noch rund 60 Herrenschneider-Betriebe in Deutschland
Qualität vor Quantität
Die erste Blütezeit der rein handwerklichen Herrenschneiderei endete mit der Erfindung der Nähmaschine Mitte des 19. Jahrhunderts. Zeitgleich wurden Warenhäuser eröffnet und die Schneider belieferten vermehrt die Händler mit seriellen Konfektionen, da die Kunden den Einkauf mit großem Angebot vorzogen. Trotzdem blieb das Handwerk bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts flächendeckend erhalten. Dann ersetzte eine leichte Bügeleinlage in der Konfektion die Verarbeitung mit eingenähtem Steifleinen und sorgte für ein konkurrenzlos niedriges Preisniveau der Fabrikware.
Während es 1949 bundesweit noch 45.506 Schneiderbetriebe gab, existieren derzeit nur noch rund 60 Maßschneider-Betriebe. Sie stehen vor allem im Wettbewerb mit globalen Designhäusern, die über effektive Produktionsbedingungen und beträchtliche Marketingetats verfügen. Neben exzessivem Einsatz von Maschinen kennzeichnet diese Herstellungsweise häufig eine mindere Qualität, die sich in kurzer Haltbarkeit und schlechten Arbeitsbedingungen in den Herstellerbetrieben in Biliglohnländern ausdrückt. Zugleich gilt der maßgeschneiderte Anzug bis heute als hochwertigste und individuellste Variante des Kleidungsstücks. Die handwerklichen Fähigkeiten, die in jedes dieser Stücke einfließen, erfordern jahrelange Übung und eine psychologische Intuition, die im Zusammenspiel gewährleisten, dass das fertige Kleidungsstück zum Körperbau und Charakter seines Trägers passt. Damit hat das Berufsbild neben der rein ökonomischen auch eine künstlerische Dimension.
Bundesweit gibt es neben den etwa 60 klassischen Herrenschneiderbetrieben mit einer Unternehmensgröße von 1 bis 8 Mitarbeitern etwa 50 Herrenschneidereien der Theater- und Opernhäuser (Werkstattgrößen von 3 bis 15 Mitarbeitern). Durch die Zusammenlegung der Herren- und Damenschneiderberufe im Jahr 2003 ist die Zahl nicht genau bestimmbar. Wie wenig Schneidereien tatsächlich den hier beschriebenen tradierten handwerklichen Standards entsprechen, verdeutlicht die Zahl von rund 12.000 eingetragenen „Maßschneidereien“ in Deutschland.
Frank Sinatra und Karnevalskostüme
Das Handwerk und die Kunst
Deutlich ist auch die Rolle, die das Handwerk in der Kunst und im Brauchtum spielt: Ikonen wie Fred Astaire oder Frank Sinatra und Figuren wie James Bond wären in ihrer Wirkung ohne Maßbekleidung undenkbar geblieben. Zahllose weitere Bühnen- und Filmfiguren verdanken ihre glaubwürdige Darstellung der handwerklichen Sorgfalt, mit der ihre Kostüme maßgeschneidert worden sind. Ebenso sind regionale Trachten und Karnevalskostüme untrennbar mit dem aktiven Handwerk der Herrenschneider verbunden und somit weiterhin lebendige Alltagskultur.
Trotzdem gibt es bundesweit nur noch wenige Betriebe, die sich echter Maßarbeit widmen und die dazu notwendigen Fähigkeiten an Auszubildende weitergeben. Um dies auf höchstem Niveau zu gewährleisten, sind Organisationen wie „Die Herrenschneider“ entstanden, die auch abseits der traditionellen Innungen operieren, um die handwerklichen Techniken und Fertigkeiten zu bewahren. Ihnen allen liegt neben dem ökonomischen Überleben am Herzen, dass die Herrenschneiderei auch als Kulturgut im 21. Jahrhundert ihren Stellenwert behält. Denn die Herrenschneiderei bewahrt Traditionen, musste sie aber weiterentwickeln, um praktischen und ideellen Ansprüchen gerecht zu werden. Vor allem die Stoffe haben sich stark verändert, sie sind leichter und ihre Fasern dünner geworden, damit sind sie für die Hand schwieriger zu verarbeiten. Die Kulturtechnik des Nähens muss deshalb auf einem immer höheren Niveau ausgeführt werden, was auch immer mehr Übung erfordert. Die Herausforderung, neue Stoffqualitäten in saubere Handarbeit zu übersetzen, ist für jeden Herrenschneider eine große Motivation.
Diskrete Eleganz für den neuen Kunden
Kommunikation durch Individualität
Die Ansprüche der Kundschaft sind durch Individualisierungsprozesse und schnelllebige Modeeinflüsse gestiegen. Dies hat die Schneider auch ideell zum Umdenken bewogen, da der oft uniformiert wirkende Business-Dresscode der Vergangenheit die zeitgenössischen Bedürfnisse nicht mehr abdeckt. Wer heute Maßanzüge fertigt, muss eine große Auswahl an Schnitten, Linienführungen, Mustern und Farben beherrschen. Dabei gilt es vom eigenen Ideal abzurücken und die Stilform des Kunden mit Empathie zu erforschen. Der Anzug muss mit dem Träger eine Symbiose bilden und wird dadurch zum subtilen Kommunikationsmittel. Deutsche Herrenschneider arbeiten in dem Bewusstsein, eine besonders große Bandbreite der Anforderungen abzudecken, die ihr Beruf an sie stellt.
Trotzdem legen die meisten Schneider ihrer Arbeit ein diskretes Konzept von Eleganz zugrunde. Sie konzentrieren sich auf die möglichst perfekte Ausgestaltung vieler Details, die im Resultat kaum wahrnehmbar sind, für Kenner aber den Unterschied machen. Das perfekte Knopfloch, der tadellose Ärmelfall und das Anschmiegen der Nahtlinien an den Körper sind Grundsätze des Handwerks, die über Jahrhunderte vom Meister zum Auszubildenden weitergetragen werden. Das Streben nach der perfekten Verarbeitung von Naturmaterialien, die Perfektion ausschließen, eint und verbindet das Handwerk.
Es herrscht der Leitsatz: „Nur wenn man nicht sieht, dass ein Herrenschneider seine Arbeit getan hat, ist es ein guter Anzug.“
Forschung und Technik
Handwerkliche Perfektion
Die Arbeit des Herrenschneiders beginnt mit dem Gespräch vor dem Maßnehmen, das neben Wünschen, Vorstellungen und Anforderungen vor allem den Charakter des Kunden erforscht. Das Vermessen selbst ist ein komplexer Vorgang, bei dem nicht nur Zahlen zur Anatomie ermittelt, sondern auch die unterschiedlichen Merkmale des Körperbaus interpretiert werden müssen. Nur wer diese Technik beherrscht, kann bei der Fertigung des individuellen Schnittmusters bereits körperliche Besonderheiten des Kunden einberechnen.
Bei der Herstellung von Sakko, Weste und Hose stechen vor allem die Verarbeitung der losen Rosshaareinlage durch Pikierstiche und das Formbügeln (Dressur) der Schnittteile per Hand hervor. Bei der Verarbeitung der losen Einlage wird über eine zweilagige Pferdehaareinlage das Sakkovorderteil des Oberstoffes gespannt. Die Einlage unterstützt das Sakko bei der Formgebung, indem markante Körpermerkmale besonders betont oder ausgeglichen werden. Durch das Gewebe aus Naturfasern wird zum einen der Körperwärme-Austausch und zum anderen die faltenfreie Rückbildung der Kleidungsform gewährleistet.
Bei der Dressur der Schnittteile wird durch eine aufwendige Bügeltechnik die dreidimensionale Körperform des Kunden in die zweidimensionalen Schnittteile eingebracht, bevor die formgebenden Nähte folgen. Das Dressurbügeln nutzt die Querelastizität der Webstoffe und die verformbare Kräuselung der Wollfaser aus, um in die Kleidungsstücke Körperpartien wie Brust oder Oberschenkel einzuarbeiten.
Der wesentliche Anteil des gesamten Prozesses wird aber durch fein gestochene Handarbeiten bestimmt. Staffieren, Punktieren, Pikieren, Zierstechen, Heften und Knopflochstechen sind nur ein kleiner Auszug von vielfältigen Techniken. Nur aus dem Zusammenspiel aller Arbeitsschritte resultiert ein maßgeschneiderter Anzug in fließender Form. So umfasst das Berufsbild nicht nur handwerkliche Aspekte, sondern auch kommunikative und mathematische, es erfordert ein geschultes Abstraktionsvermögen und ein geradezu enzyklopädisches Wissen über Stoffe, Stile und Traditionen.
Politik und Kunst mit Nadel und Faden
Treffpunkt der Staatsmänner
In den Blütezeiten war eine Herrenschneiderei ein politisch neutraler Ort, um Kundschaft aus der Politik nicht zu verprellen. Viele Staatsmänner nutzten die diskrete Atmosphäre des Anprobezimmers, um sich mit ihresgleichen zu treffen, in dem Wissen, dass die Gespräche vertraulich blieben. Dabei hat das Schneiderhandwerk auch soziale und kulturelle Fortschritte mit großer Tragweite angestoßen. So war beispielsweise die Schneiderrevolution von Berlin 1830 ein Ausdruck der sozialen Missstände des 19. Jahrhunderts und spiegelte die wirtschaftliche Verzweiflung des Berufsstandes zu jener Zeit wider. In der Folge organisierte der Allgemeine Deutsche Schneiderverein 1874 die Braunschweiger Kasse als erste selbstverwaltete Krankenversicherung, um dieser Entwicklung entgegenzutreten. Auch historische Persönlichkeiten der Arbeiter- und Frauenrechtsbewegung wie Hugo Karpf, Ottilie Baader oder Wilhelm Christian Weitling entstammen dem Schneiderhandwerk und stehen stellvertretend für die gesellschaftliche Gestaltungskraft der Zunft.
Die Arbeit des Herrenschneiders ist fest im kollektiven kulturellen Gedächtnis verankert, da sie die öffentliche Ästhetik des Mannes geprägt hat und ein Sinnbild für die Emsigkeit des Handwerks darstellte. Doch auch in einzelnen Kunstformen sind Schneider ganz konkret präsent: In der Literatur gehören die Märchen „Das tapfere Schneiderlein“ und „Des Kaisers neue Kleider“ zum Kanon. In der Welt des Films sind Figuren wie James Bond ohne Maßanzüge nicht denkbar. Eine Schneiderei war in den beiden Folgen des Geheimagenten-Blockbusters „Kingsman“ ein zentraler Schauplatz und im Film „The Outfit“ muss sich ein diskreter Maßschneider in seinem Chicagoer Atelier mit Gangstern herumschlagen.
Stets europäisch vernetzt
Internationales Handwerk
Mit der europaweiten Verbreitung des Maßanzuges im Zusammenhang mit dem Bedeutungsverlust des Adels und dem Aufstieg des Bürgertums standen Schneider seit jeher in engem Austausch. Die Herrenschneidereien waren immer ein Magnet für Einwanderer und nicht wenige gute Schneider haben Wanderjahre in Europa hinter sich. Im Jahr 1850 wurde in Dresden die „Europäische Modezeitung“ herausgegeben, die mit ihrer erfolgreichen Schnitttechnik schnell Ableger in Österreich, Tschechien, Frankreich und England fand.
Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Stile in den einzelnen Ländern Europas: Hier sind beispielsweise regionale Trachten, der venezianische Karneval, die Cutaways vom Pferderennen in Ascot und die prachtvollen Paradeuniformen der Königshäuser zu nennen. Seit Beginn der Schneiderei stellten Visionäre die gängige Kleidungsordnung ihrer Zeit in Frage und veränderten sie mit Hilfe eines Herrenschneiders. So wandelten sich länderübergreifend immer wieder die Dresscodes. Der Anzug gilt deshalb bis heute weltweit als ein zentrales und markantes Erkennungszeichen für Seriosität und Etikette.
Auch heute pflegt das Schneiderhandwerk länderübergreifenden Austausch: Den größten europäischen Zusammenschluss bildet dabei der European Master Tailor Congress. In wechselnden Veranstaltungsländern findet der Kongress mit Damen- und Herrenschneidern aus mehr als fünf verschiedenen Nationen alle zwei Jahre statt. Dort wird neben dem fachlichen Wissensaustausch auch ein Leistungswettbewerb veranstaltet.
Als übergeordnete Gemeinschaft findet sich der Weltkongress der Maßschneider mit mehr als 20 verschiedenen Nationen in einem ähnlichen Rahmenprogramm zusammen.
Die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten vereinfachen den Austausch unter Kollegen über Ländergrenzen hinweg. Durch den Kontakt einiger deutscher Schneider zur englischen Savile Row Bespoke Association wurde in Deutschland die Vereinigung „Die Herrenschneider – Echte Maßarbeit. Ehrliches Handwerk e.V.“ ins Leben gerufen.
Die Herrenschneiderei ist regional in Innungen und national im Bundesverband der Maßschneider organisiert, deren Aufgaben sich in erster Linie auf die Ausbildung, den Wissensaustausch und den Leistungswettbewerb konzentrieren. Abseits dieser tradierten Struktur haben sich die „Young Tailors“ und der „Arbeitskreis junger Herrenschneider“ gebildet. Hier treffen sich Herrenschneider jährlich zum Wissensaustausch. Die Vereinigung „Die Herrenschneider – Echte Maßarbeit. Ehrliches Handwerk e.V.“ geht auf diese Treffen zurück, ihr Ziel ist nicht nur der fachliche Austausch, sondern auch der Dialog mit einer interessierten Öffentlichkeit.
Der Sisyphos im Herrenschneider
Fortschritt durch Leidenschaft
Die klassischen Betriebe eint in ihrer Herangehensweise vor allem ein ideeller Kern: Das ständige Streben nach Perfektion in dem Wissen, sie nie zu erreichen. Erstens kann die Arbeit mit der Hand nie völlig ebenmäßig sein, zweitens muss das fertige Kleidungsstück bei so vielen unterschiedlichen Tätigkeiten am Körper liegen, dass es nicht in allen Positionen vollkommen wirkt. Trotzdem wird ein Herrenschneider bei Linienführungen, Materialien und Ausfertigung versuchen, so nah an die Grenze zu kommen wie irgend möglich. Außerdem muss der Schneider modischen Entwicklungen und Bedürfnissen der jeweiligen Zeit gerecht werden, deshalb muss er mit jedem Stück dazulernen. Die Motivation für all das kann nur aus der Leidenschaft für das eigene Tun entspringen, Geld allein wäre nicht genug.
Schließlich hat die Tatsache, dass es nur noch wenige Betriebe gibt, auch eine positive Seite: Wo früher häufig Konkurrenzdenken und Eitelkeiten zwischen Schneidern herrschten, hat sich eine freundschaftliche Kollegialität ausgebreitet, aus der ein neuartiger Zusammenhalt erwachsen ist.